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02. Dreisprachiges Kind = Dreifacher Wortschatz?

02. Dreisprachiges Kind = Dreifacher Wortschatz?

Zum dreisprachigen Wortschatzerwerb im Grundschulalter

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Zago, E. R. B., & Berthele, R. (2023). Trilingual children’s narratives: a longitudinal study of lexical development. International Journal of Multilingualism, 21(4), 2182–2197. https://doi.org/10.1080/14790718.2023.2232394

Infolge der Globalisierung und der damit einhergehenden individuellen Mobilität wurden und werden immer mehr Familien gegründet, in welchen die Kinder mit diversen Sprachenkonstellationen aufwachsen: Ein Elternteil, der gegebenenfalls selbst mehrsprachig ist, hat oft andere Erstsprachen als die Partnerin bzw. der Partner, und diese Sprachen wiederum unterscheiden sich eventuell von der Umgebungssprache. Daher gibt es immer mehr dreisprachig aufwachsende Kinder. Aber wie läuft das eigentlich ab? Wie lernen Kinder die Wörter in den drei Sprachen? Und welchen Einfluss hat die Schule? Diesen Fragen widmet sich eine Studie der Sprachwissenschaftler Elisabeth Reiser-Bello Zago und Raphael Berthele (2023) von der Universität Freiburg in der Schweiz.

Sie untersuchten drei Geschwisterpaare (insgesamt 6 Kinder) aus der Schweiz im Grundschulalter zu drei Zeitpunkten über drei Jahre hinweg. Alle Kinder wachsen dreisprachig auf, und zwar entweder mit den Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch oder Deutsch, Französisch und Spanisch. Im Rahmen der Studie wurden die Kinder an den drei Untersuchungszeitpunkten aufgefordert, kurze Folgen der Animationsserie „Pingu“ in allen drei Sprachen nachzuerzählen. Im Fokus stand dabei die Entwicklung des Wortschatzes, gemessen an der Länge der Erzählungen, der lexikalischen Vielfalt und der Ausdrucksschärfe, d.h. der Fähigkeit der Kinder, möglichst treffende, seltener in einer Sprache vorkommende Wörter zu verwenden. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die beobachtete Tendenz, dass der Wortschatz der Kinder in allen Sprachen stetig vielfältiger und elaborierter wurde, besonders jedoch in der Sprache, die jeweils in der Schule verwendet wird. Die Schulsprache verwendeten die Kinder im Untersuchungszeitraum auch insgesamt am kompetentesten. Es gab dabei aber auch recht deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern in Bezug darauf, wie stark diese Tendenz ausfällt: Die Wortschatzentwicklung erwies sich also als sehr individuell, sogar bei Geschwistern, die ja eigentlich einen vergleichbaren Spracheninput erhalten. Aus der Datenerhebung für das älteste Kind, einen Jungen, der zu Beginn der Studie 9 und zum letzten Messzeitpunkt 11 Jahre alt war, konnte schließlich eine weitere wichtige Erkenntnis gewonnen werden: Für die Verwendung aller Sprachen ist die Motivation entscheidend. Denn der Junge produzierte im Verlauf der Studie wider Erwarten und im Gegensatz zum Gesamtbild der übrigen Kinder immer kürzere Erzählungen und zeigte einen scheinbar immer weniger elaborierten Wortschatz. Gegenüber dem Forscherteam machte er dabei allerdings auch einen zunehmend gelangweilten Eindruck und äußerte explizit seine Ansicht, dass die nachzuerzählenden Videos etwas für jüngere Kinder seien.

Was bedeuten die Ergebnisse der Studie nun für den Familienalltag und für die Grundschule? Zunächst machen sie klar, dass Kinder, die dreisprachig aufwachsen, nicht alle drei Sprachen automatisch gleichmäßig erlernen: Sie wachsen nicht als "dreifache Einsprachige" auf. Außerdem verläuft der trilinguale Spracherwerb ganz individuell, sogar bei Geschwistern gibt es Unterschiede. Es scheint also wenig sinnvoll, mehrsprachige Kinder bezüglich des Erwerbs ihrer einzelnen Sprachen unter Druck zu setzen oder miteinander zu vergleichen. Im Gegenteil: Die Studienergebnisse legen nahe, dass Motivation und authentische Anlässe, eine Sprache zu sprechen, entscheidend sind. Eine zentrale Rolle nimmt dabei offenbar die Schule als Sprechanlass ein: In der Schulsprache war der Wortschatz der Kinder am Ende Studie (in den meisten Fällen) elaborierter als zu Beginn und sie beherrschten diese Sprache insgesamt am besten. Es ist also davon auszugehen, dass die Schule zur Bewahrung der wertvollen Ressource der Familiensprachen einen wichtigen Beitrag leisten kann. Ein Ausbau des bereits existierenden Konzepts bilingualer bzw. internationaler Schulen scheint daher sinnvoll – gerade weil auch viele Lehrkräfte inzwischen mehrsprachig sind. Analog ist der Einbezug von mehr als zwei Sprachen denkbar, z. B. indem in nicht-sprachspezifischen Fächern hin und wieder der Klassenverbund aufgelöst und Gruppen für die jeweiligen Herkunftssprachen gebildet werden.


Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Wortschatzerwerb bei Ihren mehrsprachigen Kindern bzw. bei deren Geschwistern gemacht? Welche Gesprächsthemen motivieren Ihre Kinder, worüber sprechen sie in welcher Sprache? Können und sollten verschiedene Familiensprachen in der Schule gefördert werden und wie?

Diskutieren Sie mit unter dem entsprechenden Post auf Instagram: ifm_muenchen

Zum Weiterlesen/-schauen:

[Studie zum bilingualen Spracherwerb von Geschwistern, auf die Reiser-Bello Zago und Berthele (2023) Bezug nehmen]
Silva-Corvalán, C. (2014). Bilingual language acquisition: Spanish and English in the first six years. Cambridge University Press.

[Website zum Projekt „Bilinguale Grundschule“ in Bayern]
Stiftung Bildungspakt Bayern (ohne Jahr). Lernen in zwei Sprachen. https://www.bildungspakt-bayern.de/projekte_bilinguale_grundschule/

[Videos zu “Pingu”]
https://www.youtube.com/user/pingu