Internationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit
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Sprachumschaltung

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01. Mehrsprachige Eltern = Mehrsprachige Kinder?

Zum Einfluss der Familie auf den Spracherwerb der Kinder

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Cantone, K. F. (2019). Language exposure in early bilingual and trilingual acquisition. International Journal of Multilingualism, 19(3), 402–417. https://doi.org/10.1080/14790718.2019.1703995

Deutschland weist aktuell eine moderne, migrationsgeprägte Gesellschaftsstruktur auf. Das bedeutet auch: In vielen Familien haben die Eltern, auch wenn sie bereits mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind, darüber hinaus noch eine oder mehrere andere Erstsprachen. Es stellt sich also die Frage, wie die wertvolle Ressource der Mehrsprachigkeit erhalten werden kann: Welchen Einfluss hat die Familie darauf, dass Kinder zwei oder mehrsprachig aufwachsen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studie der Sprachforscherin Katja Cantone (2019) von der Universität Duisburg-Essen.

Im Rahmen dieser Studie wurden 6 Kinder bis zum Ende des dritten Lebensjahrs untersucht, in deren Familien beide Eltern mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind und zudem mindestens ein Elternteil eine weitere Erstsprache hat. Es stellt sich heraus, dass die Menge an Input, den die Kinder in den Sprachen der Eltern jeweils erhalten, zwar ein wichtiger Faktor ist, aber keinen so eindeutigen Einfluss auf die Mehrsprachigkeit der Kinder hat, wie man es vielleicht intuitiv erwarten würde. Unter Bezugnahme auf andere Studien erklärt Cantone, dass eine Sprache zwar eventuell ein Minimum von 20% im gesamten Sprachinput einnehmen muss, um erworben zu werden, weist aber gleichzeitig auf die Möglichkeit hin, dass Kinder trotz geringeren Inputs lernen können, Sprachen zu verstehen, auch wenn sie diese nicht aktiv sprechen.

Ein weiteres Ergebnis der Studie von Cantone ist aber auch, dass die Allgegenwärtigkeit der Umgebungssprache Deutsch den Erhalt der anderen Elternsprachen langfristig beeinträchtigen kann. So haben in einigen der untersuchten Familien beide Eltern neben dem Deutschen eine weitere Erstsprache (und zwar nicht die gleiche), beherrschen aber jeweils diese zusätzliche Sprache der Partnerin bzw. des Partners nicht, sodass sie miteinander auf Deutsch kommunizieren. Obwohl diese Eltern die Strategie verfolgten, im Einzelgespräch mit den Kindern ihre jeweilige zusätzliche Erstsprache (nicht Deutsch) zu sprechen, werden Cantone zufolge die Kinder mit zunehmendem Alter immer mehr in Familiengespräche einbezogen, wo nur Deutsch als für alle verständliche Sprache möglich ist. Und natürlich wächst auch der Einfluss von Kontakten außerhalb der Familie in der Umgebungssprache Deutsch.

Weiterhin stellt Cantone fest, dass Großeltern einen entscheidenden Einfluss auf den Spracherhalt haben. Der Einfluss älterer Geschwister erwies sich in der Studie als ambivalent: Eine ältere Schwester förderte die Verwendung einer Herkunftssprache, ein älterer Bruder förderte die Verwendung der Umgebungssprache Deutsch. Außerdem kann das Prestige der Sprachen deren Erhalt beeinflussen.

Was bedeuten diese Ergebnisse nun für den Familienalltag und für Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter? Cantone ermuntert in einer abschließenden Bemerkung ihres Beitrags Eltern dazu, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, ohne die Angst, dass sich dies negativ auf den Erwerb der Umgebungssprache Deutsch auswirken könnte. Das passt auch zu den Studienergebnissen: Denn diese machen den starken Einfluss der Umgebungssprache deutlich, der sich vor allem mit zunehmendem Alter der Kinder automatisch ergibt und schließlich den Erhalt der anderen Familiensprachen sogar beeinträchtigen kann. Dementsprechend schlägt Cantone mehrsprachigen Eltern vor, eventuell die Inputzeiten für die einzelnen Sprachen festzuhalten, um ein Bewusstsein für Muster in der Sprachverwendung zu schaffen. Außerdem legen Cantones Ergebnisse sowie die Ergebnisse zweier anderer Studien, auf die sie Bezug nimmt (Quay 2001, 2008), nahe, dass es für Eltern sinnvoll sein kann, die weitere(n) Erstsprache(n) des anderen Elternteils zu erlernen, um Familiengespräche in allen Sprachen der Eltern zu ermöglichen und so das zwei- bis dreisprachige Aufwachsen der Kinder zu fördern. Im Hinblick auf Betreuungseinrichtungen wäre anknüpfend an Cantones Studie denkbar, für zeitlich begrenzte Aktivitäten Gruppen von Kindern zu bilden, die den gleichen oder zumindest einen ähnlichen familiensprachlichen Hintergrund haben, um die Verwendung der jeweiligen Herkunftssprachen zu fördern.


Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Lohnt sich die Entscheidung zur mehrsprachigen Kindererziehung? Wie handhaben Sie dies in Ihrer Familie und was sind Ihre Erfahrungen? Sollten Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter Mehrsprachigkeit berücksichtigen und wie?
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Zum Weiterlesen:
[Studien mit ähnlichem Ansatz, auf die Cantone (2019) Bezug nimmt]
Chevalier, S. (2011). Trilingual language acquisition contextual factors influencing active trilingualism in early childhood. Habilitationsschrift: University of Zürich.
Quay, S. (2001). Managing linguistic boundaries in early trilingual development. In J. Cenoz & F. Genesee (Eds.), Trends in bilingual acquisition (pp. 149–199). Amsterdam: Benjamins.
Quay, S. (2008). Dinner conversations with a trilingual two-year-old: Language socialization in a multi-lingual context. First Language, 28(1), 5–33.