Internationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit
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04. Ab wann ist man mehrsprachig?

Sprachwissenschaftliche Konzepte und Begriffe zu Mehrsprachigkeit und Migration

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Koch, N. & Riehl, C. M. (2024). Migrationslinguistik. Eine Einführung. Narr Francke Attempto, Kap. 2.2 + 3. doi: 10.24053/9783823395171

In Ihrem Buch mit dem Titel „Migrationslinguistik“ stellen Nikolas Koch und Claudia Maria Riehl (2024) fest, „dass Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und nicht etwa ein problembehafteter Einzelfall als Folge von Migration“ (ebd.: 36). Trotzdem wird ihnen zufolge auch heute noch oft die Einsprachigkeit als Regelfall wahrgenommen. Den Grund für diese Fehleinschätzung sehen sie in erster Linie in einer inzwischen veralteten, aber immer noch wirksamen Auffassung darüber, ab wann jemand eigentlich als mehrsprachig bezeichnet werden kann: laut dieser Auffassung nämlich, wenn sie oder er zwei Sprachen auf einem muttersprachenähnlichen Niveau beherrscht, was an sich schon ein problematischer Maßstab ist (siehe Beitrag 2.1). Es stellt sich also die Frage nach dem aktuellen Stand: Wie wird Mehrsprachigkeit – auch im Kontext von Migration – inzwischen in den Sprachwissenschaften verstanden?

Den Autor:innen nach wird die „muttersprachliche“ Kompetenz in den einzelnen Sprachen inzwischen als Kriterium für Mehrsprachigkeit abgelehnt, weil dies bedeuten würde, in allen Lebensbereichen und Situationen beide Sprachen gleichermaßen verwenden zu müssen, was aber nicht der Realität von Mehrsprachigen entspricht. Dementsprechend wird Mehrsprachigkeit inzwischen als die Fähigkeit verstanden, situationsabhängig zwischen den erworbenen Sprachen wechseln zu können. Es geht dabei darum, den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation gerecht zu werden. Koch und Riehl zufolge hängt Mehrsprachigkeit damit auch nicht davon ab, ob man mit einer Sprache aufgewachsen ist oder sie erst später erlernt hat. Außerdem können in einem weiteren Sinne dann auch Dialekte und soziale Varietäten wie Jugendsprachen, deren Verwendung ja ebenfalls an bestimmte Kontexte bzw. Gesprächspartner:innen geknüpft ist, als Sprachformen neben der Standardsprache verstanden und ihre Sprecher:innen als Mehrsprachige bezeichnet werden. Damit wird infrage gestellt, ob reine Einsprachigkeit überhaupt existiert. Bei solchen Sprachregistern ist auch die Rede vom Konzept der „inneren Mehrsprachigkeit“.

Zudem gehen Koch und Riehl auf die Unterscheidung zwischen lebensweltlicher und bildungsbezogener Mehrsprachigkeit ein. Bildungsbezogene Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei auf die im Bildungssystem als getrennte Fächer in einem tendenziell künstlichen Modus erworbenen Sprachen, während lebensweltliche Mehrsprachigkeit die tatsächlich im Alltag verwendeten Sprachen meint, die im Gegensatz zu den Schulsprachen auch gemischt werden. An derartigen Prozessen des Sprachkontakts sind also häufig die sogenannten „Herkunftssprachen“ beteiligt. Koch und Riehl erläutern, dass darunter meist eine zuerst erworbene Familiensprache verstanden wird, die nicht gleichzeitig auch Umgebungssprache ist, sodass die Sprecher:innen bilingual mit Herkunfts- und Umgebungssprache aufwachsen. Der Begriff der Herkunftssprache impliziert Koch und Riehl zufolge kein bestimmtes Kompetenzniveau, dieses fällt bei Herkunftssprachensprecher:innen sehr unterschiedlich aus und hängt auch von der Förderung der jeweiligen Herkunftssprache durch das Bildungssystem des jeweiligen Umgebungssprachenlandes ab. Eine wichtige Rolle spielt deshalb die persönliche bzw. familienhistorische Verbindung zur Herkunftssprache.

Neben diesen auf das mehrsprachige Individuum bezogenen Ausführungen nehmen Koch und Riehl auch die Mehrsprachigkeit auf gesellschaftlicher Ebene in den Blick. Sie weisen auf eine übliche Differenzierung zwischen autochthonen und allochthonen Sprachminderheiten hin. Als autochthone Minderheiten werden dabei diejenigen Gruppen bezeichnet, die bereits vor den Staatengründungen in Europa in ihrem Gebiet ansässig waren. Die allochthonen Minderheiten sind dagegen die später Hinzugezogenen, wobei vor allem im Rahmen von Migrationsbewegungen nach dem 2. Weltkrieg zugewanderte Gruppen gemeint sind. Im Gegensatz zu den allochthonen Minderheiten ist bei den autochthonen der Schutz bzw. die Förderung von Sprache und Kultur gesetzlich geregelt. Zu den autochthonen Minderheiten in Deutschland zählen Koch und Riehl die Dänen, die Nordfriesen, die Ostfriesen und die Saterfriesen im Norden bzw. Nordwesten Deutschlands, die Sorben und Wenden im Osten sowie die im gesamten Bundesgebiet lebenden Sinti und Roma. Die größten allochthonen Minderheiten sind ihnen zufolge die polnische, türkische und russische Sprachminderheit, wozu sie auch die nach der Emigration im 18. und 19. Jahrhundert „zurücksiedelnden“ Russlanddeutschen zählen.

Inwiefern sind diese Begriffe und Konzepte nun für Schule, Universität und Alltag wichtig?
Zunächst einmal schaffen sie ein Bewusstsein dafür, dass Mehrsprachigkeit eher der Regelfall als eine Ausnahme ist. Außerdem führen sie die Vielfalt an möglichen Formen von Mehrsprachigkeit vor Augen. Sowohl für den Familienalltag als auch für das Bildungssystem gilt also, dass es weder sinnvoll noch praktikabel erscheint, diese wertvolle Ressource zwanghaft in Richtung einer artifiziellen Einsprachigkeit zu lenken. Weiterhin ist, wie auch Koch und Riehl anmerken, zu berücksichtigen, dass die Vermittlung von Fremdsprachen in der Schule oft von einer künstlichen Erwerbssituation geprägt ist, wenn die entsprechenden Sprachen nicht zufällig auch im Alltag der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint eine schulische Förderung der Herkunftssprachen wünschenswert, die ja ins Leben der Lernenden ganz natürlich eingebettet sind, um diese Sprachen als Ressource zu bewahren. Zwei- oder mehrsprachige Schulformen können hier ein Weg sein. Schließlich scheint es angesichts dessen, dass bei den allochthonen im Gegensatz zu den autochthonen Minderheiten ein entsprechender gesetzlicher Rahmen fehlt, für Sprecher:innen von Herkunftssprachen lohnenswert, sich (weiterhin) persönlich für den Erhalt von Sprache und Kultur ihrer Sprachminderheit einzusetzen, sowie für alle, entsprechende gesetzliche Regelungen zu fordern.

Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche der oben dargestellten Erkenntnisse bzw. Konzepte aus der Mehrsprachigkeits-forschung waren neu für Sie? Was hat Sie überrascht? Welche Fremdsprachen werden an Schulen in Ihrer Umgebung vermittelt? Sollte der an Schulen vermittelte Fremdsprachen-„Kanon“ grundsätzlich überarbeitet werden und wie?
Diskutieren Sie mit unter dem entsprechenden Post auf Instagram: ifm_muenchen

Zum Weiterlesen
[Zahlen zu mehrsprachigen Personen in D., auf die sich Koch und Riehl (2024) beziehen]

Statistisches Bundesamt (2023). Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2021. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, pp. 503-526.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/migrationshintergrund-endergebnisse-2010220217004.pdf?__blob=publicationFile