Internationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit
print

Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

08. Gemeinsamer Unterricht für Herkunftssprachensprecher:innen und Fremdsprachenlernende?

Zu heterogener Sprachkompetenz im Sprachunterricht

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Olfert, H. (2022). Sprachlich heterogene Lerngruppen in Fremd- und Herkunftssprachenkursen an universitären Sprachenzentren. Differenzierungsanforderungen aus der Sicht von Dozent*innen. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 27 (2), 103–123. https://doi.org/10.48694/zif.3500

Infolge von Migration gibt es Deutschland immer mehr Familien, in denen die Eltern eine oder mehrere andere Erstsprachen als Deutsch sprechen, welche die Kinder dann als Familiensprachen erwerben. Sowohl in Unterrichtsformen, die sich speziell an solche mehrsprachige Sprecher:innen richten, als auch vor allem im Fremdsprachenunterricht, dessen Zielgruppe in erster Linie die „Mehrheitsbevölkerung“ – d.h. Sprachlernende ohne entsprechende Vorkenntnisse und familiäre Bezüge zur jeweiligen Sprache – ist, ergibt sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Situation, dass die einzelnen Mitglieder einer Lerngruppe über ganz unterschiedliche Sprachkompetenzen verfügen. Wie gehen aber Lehrkräfte mit solch heterogenen Gruppen um? Wie schätzen sie diese Situation ein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die im Folgenden diskutierte Studie von Helena Olfert (2022).

Olfert führte Interviews mit insgesamt fünf Dozierenden, die zum Zeitpunkt der Studie an universitären Sprachenzentren Sprachkurse für Studierende anboten, und zwar entweder separat als Fremdsprachen- und Herkunftssprachenunterricht oder lediglich als Fremdsprachenkurse. Allerdings nahmen auch im letzteren Fall Sprecher:innen am Unterricht teil, die die Sprachen als Herkunftssprache/Familiensprachen hatten. Die Lehrkräfte unterrichteten jeweils entweder Arabisch, Polnisch, Russisch oder Türkisch. In den Interviews zeigte sich die Tendenz, dass sie bei der Beurteilung der Sprachkompetenz der Sprecher:innen dieser Familiensprachen einen Maßstab verwendeten, der sich an der (Standard-)Sprache monolingual im Herkunftsland aufgewachsener Menschen orientiert (zur Problematik dieser Denkweise siehe z.B. die Beiträge 05. und 06.). Dementsprechend sahen sie beispielsweise Einflüsse von Dialekten, welche die Sprecher:innen ggf. zu Hause mit ihren Eltern verwenden, als sprachliche Defizite bzw. Fehler. Insgesamt schätzten die Lehrkräfte die sprachlichen Fähigkeiten der Sprecher:innen in der jeweils unterrichteten Sprache als sehr heterogen ein, gingen aber nach eigenen Angaben in Herkunftssprachenkursen nur insofern darauf ein, als sie fortgeschritteneren Sprecher:innen mehr (und nicht schwierigeres) Aufgabenmaterial bereitstellten, oder als besonders leistungsschwach eingeschätzte Sprecher:innen in die Fremdsprachenkurse schickten. Als besonders schwierige Herausforderung bzw. Problem bei Herkunftssprachensprecher:innen sahen die Lehrkräfte eine vermeintlich große Kluft zwischen hoher mündlicher und niedriger schriftsprachlicher Kompetenz. Außerdem stellten in den Augen vieler Dozierender die Herkunftssprachensprecher:innen einen Störfaktor im Fremdsprachenunterricht dar, wo sie gemeinsam mit anderen Lernenden unterrichtet werden: Dort sollten sie sich zurückhalten oder allenfalls leistungsschwache Fremdsprachenlernende unterstützen. Trotzdem gab es in der Studie auch Dozierende, die den Herkunftssprachensprecher:innen gegenüber positiver eingestellt waren: sie sahen die mündlichen, von der Standard-sprache abweichenden dialektalen Varietäten aus den Familien explizit als Bereicherung, welche sie nach eigenen Aussagen in ihrem Unterricht berücksichtigten.

Was bedeuten diese Studienergebnisse nun für mehrsprachige Familien, für Bildungsinstitutionen und für Lehrkräfte des herkunftssprachlichen Unterrichts? Insgesamt scheint ein universitärer Sprachunterricht, wie er von den meisten der Lehrkräfte aus der Studie geschildert wurde, den Herkunftssprachensprecher:innen kaum gerecht zu werden. Es ist daher notwendig, spezifische Unterrichtskonzepte für den herkunftssprachlichen Unterricht bzw. für den gemeinsamen Unterricht von allen Lernenden zu entwickeln. Des Weiteren benötigen Lehrkräfte des HSU, wie es auch Olfert fordert, „mehr Wissen um mehrsprachigen Spracherwerb“ (S. 119) sowie das Bewusstsein, dass eine defizitorientierte Perspektive auf die sprachlichen Fähigkeiten der Herkunftssprachensprecher:innen nicht zielführend ist. Zudem wäre es sinnvoll, den herkunftssprachlichen Unterricht schon früher im Bildungssystem – an den verschiedenen Schularten – institutionell zu verankern. Und bevor das geschieht, kann mehrsprachigen Familien lediglich geraten werden, sich aktiv nach herkunftssprachlichen Unterrichtsangeboten umzusehen und sich dafür einzusetzen.

Was meinen Sie?

Zum Abschluss sind Sie gefragt: Was wünschen Sie sich von herkunftssprachlichem Unterricht? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Sollten Herkunftssprachensprecher und Fremdsprachenlernende gemeinsam lernen bzw. unterrichtet werden? Warum (nicht)?
Diskutieren Sie mit unter dem entsprechenden Post auf Instagram: ifm_muenchen

Zum Weiterlesen

[Zum gemeinsamen High-School-Unterricht von HS-Sprecher:innen und Fremdsprachenlernenden in den USA]

Randolph, L. J. (2017): Heritage Language Learners in Mixed Spanish Classes: Subtractive Practices and Perceptions of High School Spanish Teachers. Hispania, 100 (2), 274–288. https://www.jstor.org/stable/26387779