Internationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit
print

Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

06. Die Herkunftssprache in Deutschland ≠ die Herkunftssprache in dem Herkunftsland?

Zu sprachlicher Norm und Sprachwandel

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Cantone, K. F., Olfert, H., Di Venanzio, L., Gürsoy, E., Schroedler, T. & Wolf-Farré, P. (2024). Spracherhalt und Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Narr Francke Attempto, Kap. 5 & 6. https://doi.org/10.24053/9783381105823

Wenn Eltern mit Migrationshintergrund ihre Erstsprachen an die eigenen Kinder weitergeben möchten, aber insbesondere auch dann, wenn diese Sprachen in Bildungseinrichtungen gefördert werden sollen, stellt sich automatisch die Frage: Was ist eigentlich gute bzw. "richtige" Sprache? Gegebenenfalls werden hierbei einsprachig im Herkunftsland aufgewachsene "Muttersprachler:innen" als Maßstab genommen – ein problematischer Ansatz, wie bereits in Beitrag 05. gezeigt wurde. Nach welcher sprachlichen Norm können sich Herkunftssprachensprecher:innen aber sonst richten? Oder sind solche Normen gar überflüssig? Einen Überblick über sprachwissenschaftliche Perspektiven zu diesen Fragestellungen geben die Forscher:innen Cantone, Olfert, Di Venanzio, Gürsoy, Schroedler und Wolf-Farré (2024) in ihrer Veröffentlichung Spracherhalt und Mehrsprachigkeit, insbesondere im Rahmen der Kapitel 5 (von Di Venanzio und Olfert) und 6 (von Di Venanzio).

Zunächst gehen sie dabei auf die sprachwissenschaftliche Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von sprachlicher Norm ein: Usus und Kodex. Während ein Kodex die durch Regelwerke standardisierte Variante einer Sprache darstellt, bezieht sich der Usus auf den tatsächlichen Sprachgebrauch einer Sprecher:innengemeinschaft, der in manchen Fällen durchaus vom Kodex abweichen kann. Di Venanzio und Olfert nennen hier etwa als Beispiel den Ausdruck die ganzen Menschen, der zwar nach der Norm des Usus als gebräuchlich zu beurteilen ist, in Kodizes wie dem Duden aber als nicht korrekt markiert wird, die Variante alle Menschen dagegen als richtig.

Ausgehend von der Zweiteilung des Normbegriffs in Kodex und Usus skizzieren Di Venanzio und Olfert dann einige Probleme bzw. Besonderheiten, die sich hinsichtlich der Beurteilung der Sprachkompetenz von Mehrsprachigen ergeben. Sie weisen zunächst darauf hin, dass die Äußerungen von mehrsprachigen Personen in der Umgebungssprache eventuell als fehlerhaft beurteilt werden, wenn sie Merkmale von Dialekten oder der Alltagssprache in der Umgebungssprache selbst beinhalten, die nicht Teil des Kodex, sondern "nur" des Usus sind – obwohl dies bei Einsprachigen als ganz normal wahrgenommen wird. Aber auch in ihren Herkunftssprachen werden die Kenntnisse mehrsprachiger Menschen mitunter aus einer defizitorientierten Perspektive betrachtet, sogar in der Sprachforschung. Der entsprechende Forschungsansatz geht Di Venanzio und Olfert zufolge davon aus, dass infolge von Migration in ein anderssprachiges Land Teile der erstsprachlichen Kompetenz verlorengehet, sodass die folgenden Generationen die jeweilige Herkunftssprache nur unvollständig erwerben. Sie merken allerdings an, dass dieser Ansatz stark kritisiert wurde, weil er die unterschiedlichen Erwerbsbedingungen von Ein- und Mehrsprachigen vernachlässigt: Mehrsprachige erwerben ja ihre Herkunftssprache meist hauptsächlich im Familienalltag, sie kommen also hauptsächlich mit dem Usus in Kontakt, während Einsprachige im Herkunftsland beispielweise in der Schule auch die am Kodex orientierte Sprache erlernen.

Im Gegensatz dazu nimmt ein anderer Forschungsansatz, den Di Venanzio und Olfert vorstellen, nicht die Einsprachigen im Herkunftsland als Maßstab, sondern geht unter Berücksichtigung der grundsätzlich anderen Erwerbssituation von Herkunftssprachensprecher:innen davon aus, dass diese eine eigene Form der Sprache entwickeln bzw. erwerben, eine sogenannte Kontaktvarietät. Di Venanzio erklärt, dass Kontaktvarietäten von Sprachtransfer betroffen sein können, dass also Eigenschaften aus der Umgebungssprache gegebenenfalls in die Herkunftssprache übertragen werden: Dabei können Strukturen der Herkunftssprache vereinfacht oder auch komplexifiziert werden. Werden solche Veränderungen an die folgenden Generationen weitergegeben, spricht man von Sprachwandel.

Was bedeuten diese Einsichten in den sprachwissenschaftlichen Diskurs um Mehrsprachige bzw. Herkunftssprachen nun für den Familienalltag und für Bildungseinrichtungen? Di Venanzio und Olfert setzen sich zu Beginn ihres Beitrags das Ziel, sich kritisch mit den Konzepten von sprachlicher Norm bzw. sprachlichem Standard auseinanderzusetzen. Diese Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen von guter bzw. richtiger Sprache zu hinterfragen, kann sowohl für Eltern mehrsprachiger Kinder als auch für alle, die beruflich pädagogisch tätig sind, bereichernd sein. Besonders der zuletzt vorgestellte Forschungsansatz kann wichtige Impulse zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachen liefern: Er kann Herkunftssprachensprecher:innen (und ihre Eltern) daran erinnern, sich (bzw. ihre Kinder) nicht als defizitäre Sprecher:innen ihrer Herkunftssprachen, sondern als kompetente Sprecher:innen einer neu entstehenden Sprachvarietät zu sehen. Außerdem kann er Lehrkräfte darauf aufmerksam, dass Sprache nicht immer das ist, was Kodex-Normen vorgeben. Auf der anderen Seite ist kaum abzustreiten, dass zur idealen Ausschöpfung der Ressource der Mehrsprachigkeit auch der Erwerb der Kodex-Normen einer Herkunftssprache ein entscheidender Schritt ist: Erwirbt man diese, erweitern sich beispielsweise die Möglichkeiten, in bzw. in Kontakt mit der Gesellschaft des jeweiligen Herkunftslands beruflich tätig zu sein. Die Förderung von Herkunftssprachen an Bildungseinrichtungen sollte deshalb die verschiedenen Sprachregister berücksichtigen, von alltagssprachlichen bis zu formalsprachlichen Formen.

Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Was ist aus Ihrer Sicht gute bzw. richtige Sprache? An welchen Normen orientieren Sie sich? Wäre es Ihrer Meinung nach sinnvoll, Kodizes (ähnlich wie z.B. den Duden) für Kontaktvarietäten zu verfassen? Und an alle Eltern mehrsprachiger Kinder: Achten Sie bewusst auf bestimmte Aspekte, wenn Sie Ihre Erstsprache(n) an Ihre Kinder weitergeben bzw. mit ihnen sprechen? Auf welche?

Diskutieren Sie mit unter dem entsprechenden Post auf Instagram: ifm_muenchen

Zum Weiterlesen
[Zum Konzept der Standardsprache]
Ammon, U. (2005). Standard und Variation: Norm, Autorität, Legitimation. In L. M. Eichinger & W. Kallmeyer (Eds.), Standardvariation. Wieviel Variation verträgt die deutsche Sprache? (pp. 28-40). Berlin, New York: De Gruyter.