Internationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit
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Sprachumschaltung

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05. Ein(e) Bilinguale(r) = Zwei Einsprachige?

Zu Unterschieden zwischen Mehr- und Einsprachigen hinsichtlich Sprachenlernen und -gebrauch

Verfasst von David Mathieu, B.A.

Diskutierter Beitrag:
Grosjean, F. (1989). Neurolinguists, beware! The bilingual is not two monolinguals in one person. Brain and Language, 36 (1), 3-15. https://doi.org/10.1016/0093-934X(89)90048-5.

Deutschland wird zunehmend international und damit wird die Mehrsprachigkeit zu einer immer präsenteren Erscheinung. Trotzdem hält sich immer noch hartnäckig die Vorstellung, dass es der Normalfall ist, einsprachig zu sein: Mehrsprachig ist demnach nur, wer jede seiner Sprachen auch wie ein(e) „Muttersprachler(in)“ beherrscht (siehe Beitrag 04.). Mehrsprachige werden also für jede ihrer Sprachen am gleichen Maßstab wie Einsprachige gemessen. Aber ist das aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt sinnvoll? Inwiefern sind Mehrsprachige und Einsprachige überhaupt vergleichbar? Hierzu präsentierte der Sprachforscher Francois Grosjean bereits 1998 einige Überlegungen, die nach wie vor relevant sind.

Im entsprechenden Artikel nimmt er für die Mehrsprachigkeit vor allem den bilingualen Fall in den Blick und grenzt dabei zwei Vorstellungen von Zweisprachigkeit voneinander ab: Der monolinguale Ansatz sieht Bilinguale als Menschen, die über zwei separate Sprachkompetenzen verfügen, die möglichst ausgeglichen sein sollen. Dieses Verständnis von Bilingualität entspricht der eingangs geschilderten Anforderung, alle Sprachen auf einem „muttersprachlichen“ Niveau beherrschen zu müssen, um wirklich als mehrsprachig zu gelten. Grosjean kritisiert diese Vorstellung von Mehrsprachigkeit vor allem aus drei Gründen. Erstens vernachlässigt sie ihm zufolge, dass Bilinguale in der Realität ihre Sprachen jeweils in ganz spezifischen sozialen Kontexten verwenden: Es werden aber eben nicht beide Sprachen gleichmäßig in den gleichen Situationen und mit denselben Menschen gesprochen. Zweitens werden Sprachmischungen in diesem Paradigma lediglich als Fehler bzw. Ausrutscher betrachtet. Und drittens wird vernachlässigt, dass sich die Sprachkompetenzen im Laufe des Lebens verändern können. Eine später erworbene Sprache kann sogar dominanter werden als die Erstsprache. Diesem monolingualen Verständnis von Bilingualität stellt Grosjean die holistische Perspektive gegenüber, welche er befürwortet. Ihr zufolge sind Bilinguale eben nicht in ihren einzelnen Sprachkompetenzen mit Monolingualen vergleichbar. Grosjeans Kernargument ist hierbei, dass nicht so sehr die formale Korrektheit bzw. Einheitlichkeit der einzelnen Sprachen in den Fokus gestellt werden sollte, sondern eher die kommunikative Kompetenz, d.h. inwiefern die jeweiligen Lebenssituationen mit dem Sprachenrepertoire angemessen bewältigt werden können. Ihm zufolge besitzen Bilinguale die gleiche kommunikative Kompetenz wie Monolinguale, sie verwenden eben nur situationsabhängig die eine oder die andere Sprache – oder sogar Sprachmischungen, wenn sie mit anderen Bilingualen sprechen. Derartige situationale Faktoren seien also beim Vergleich von Mono- und Bilingualen zu berücksichtigen.

Was bedeuten diese Ausführungen nun für Bildungseinrichtungen und für den Alltag? Grosjean betont in seiner Schilderung der von ihm bevorzugten, holistischen Perspektive auf Bilingualität die Abhängigkeit der Mehrsprachigkeit vom situationalen Kontext. Daraus lässt sich schließen, dass die Ressource der Mehrsprachigkeit umso besser gefördert werden kann, in je mehr Kontexten jede Sprache verwendet wird. Diese Einsicht spricht also für eine Förderung der Familiensprachen an Bildungseinrichtungen wie Kitas bzw. Kindergärten und insbesondere Schulen, damit die Sprachen nicht nur im familiären Alltag, sondern auch in formalen Kontexten und in vielfältigeren Themengebieten verwendet werden können. Weiterhin lässt sich darüber diskutieren, inwiefern es gerechtfertigt ist, dass monolinguale und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler in Prüfungen am selben Maßstab gemessen werden. Auf dieser Überlegung basiert beispielsweise das Projekt „Allrad-M“ (Gantefort/Goltsev 2024), welches bei der Überprüfung des Hörverstehens mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gab, sowohl Audio als auch Prüfungsfragen abwechselnd in allen ihren Sprachen wiederzugeben bzw. anzuzeigen. Schließlich weist Grosjean in seinem Artikel auch darauf hin, dass Mehrsprachige ihre Fähigkeiten oft als unzureichend empfinden, weil sie eben das monolinguale Verständnis von Mehrsprachigkeit verinnerlicht haben. Alle Mehrsprachigen bzw. Sprachlernenden kann Grosjeans Argumentation also daran erinnern, sich selbst nicht zu viel Druck beim Sprachenlernen zu machen, sondern sich vielleicht einmal bewusst zu machen: Welche Situationen will ich eigentlich in welcher Sprache meistern und wo gelingt mir das sogar schon?

Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Ab wann ist jemand aus Ihrer Sicht mehrsprachig? Inwiefern würden Sie sich selbst als mehrsprachig bezeichnen? Halten Sie Prüfungen nach dem Prinzip von „Allrad-M“ für sinnvoll bzw. fair oder sollten doch alle Schülerinnen und Schüler strikt einsprachig geprüft werden?

Diskutieren Sie mit unter dem entsprechenden Post auf Instagram: ifm_muenchen

Zum Weiterlesen

[Zum Projekt „Allrad-M“]
Gantefort, C. & Goltsev, E. (2024): Allgemeine rezeptive sprachliche Fähigkeiten diagnostizieren – Mehrsprachig. Allrad – M. https://mercator-institut.uni-koeln.de/forschung-entwicklung/aktuelle-projekte/allrad-m