03. Fast wie ein(e) Muttersprachler(in)?
Zu problematischen Konnotationen der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Triulzi, M., Maahs, I.-M. & Winter, C. (2023). Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache oder Familiensprache? Eine Analyse von Portfolioarbeiten Lehramtsstudierender zu Bezeichnungspraktiken sprachlicher Heterogenität im Kontext von Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28(2), 57–87. doi: 10.48694/zif.3644
Infolge von Migration gibt es im deutschen Bildungssystem viele Schüler:innen, die neben oder auch vor dem Erwerb der Umgebungssprache Deutsch mit anderen Sprachen aufwachsen bzw. aufgewachsen sind. Damit die verschiedenen Schulformen die vielfältigen, unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden didaktisch angemessen berücksichtigen können, müssen Lehrkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung zunächst erlernen, wie die entsprechenden Spracherwerbsvoraussetungen präzise genannt und beschrieben werden können. Ein entscheidendes Hindernis stellen dabei allerdings unscharfe bzw. mehrdeutige Begriffe dar. Unter diesen Vorüberlegungen widmet sich eine Studie von Marco Triulzi, Ina-Maria Maahs und Christina Winter (2023) den Begriffen Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache.
Die Studie untersuchte anhand von 120 schriftlichen Portfolios, welche von Lehramtsstudierenden verschiedener Schulfächer und -formen an der Universität zu Köln im Rahmen ihres Praxissemesters (Wintersemester 2018/2019) eingereicht wurden, in welchen Kontexten bzw. in welcher Bedeutung und mit welchen Konnotationen die Studierenden die Begriffe verwendeten. Grundsätzlich besteht der 'kleinste gemeinsame Nenner' hinsichtlich der Bedeutung darin, dass alle vier Begriffe eine bzw. mehrere Sprachen bezeichnen können, mit denen jemand aufwächst. Konkret ergab die Analyse Folgendes: Der Begriff Erstsprache wird am häufigsten und vielseitigsten verwendet, den Terminus Muttersprache verwenden die Studierenden teilweise synonym zu Erstsprache, jedoch meist zur Bezeichnung von nur einer einzigen, von Deutsch verschiedenen Sprache. Die Begriffe Familiensprache und Herkunftssprache treten dagegen in den Portfolios seltener und kontextspezifischer auf als die anderen beiden. Darüber hinaus macht die Analyse von Triulzi et al. aber auch defizitorientierte Denkmuster sichtbar, von welchen die Verwendung der vier Begriffe in den studentischen Arbeiten teilweise zeugt. Sie beziehen sich vor allem auf den Fall, dass Lernende mit anderen Sprachen als Deutsch aufgewachsen sind und die Umgebungssprache Deutsch erst später als Zweitsprache erlernt haben. So wird in den untersuchten Portfolios teilweise das in den Begriffen Muttersprache und Erstsprache ausgedrückte Konzept der ersten erworbenen Sprache von vornherein mit einer hohen Kompetenz in dieser Sprache verknüpft und eine Unterscheidung zwischen Lernenden mit Deutsch als Erstsprache und Lernenden, die Deutsch nicht als Erstsprache haben, getroffen. Dabei werden unter anderem Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, die über 'muttersprachenähnliche' Kompetenzen verfügen, als Sonderfall markiert, und manchmal wird ausgehend von Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache automatisch der Schluss gezogen, dass die Erstsprache eine andere als die deutsche sein muss. Diese Denkmuster sind Triulzi et al. zufolge problematisch, weil sie fälschlicherweise individuelle Unterschiede zwischen Erstsprachler:innen vernachlässigen und andere Erklärungsmöglichkeiten für sprachliche Schwierigkeiten ausschließen. Schließlich weisen Triulzi et al. auch darauf hin, dass der Begriff Herkunftssprache zwar im nordrhein-westfälischen Bildungssystem etabliert (siehe herkunftssprachlicher Unterricht, HSU), aber insofern problematisch ist, als er die Konzepte von Nationalitäten, Migration und Sprache undifferenziert vermischt und damit Lernenden ggf. die deutsche Herkunft abspricht.
Was bedeuten diese Ergebnisse der Studie nun für das deutsche Schulsystem und die (universitäre) Ausbildung von Lehrkräften? Zum Abschluss ihres Forschungsbeitrags plädieren Triulzi et al. in Anknüpfung an eine Reihe anderer Arbeiten (Dirim/Pokitsch 2017, Frank 2018, Mecheril 2016, Winter et al. 2021) dafür, bei Lehrkräften ein Bewusstsein für die vielfältigen möglichen Sprachenkonstellationen und Erwerbsbedingungen der Schüler:innen zu schaffen, damit diese entsprechend im Unterricht berücksichtigt werden können, sowie die Sensibilität im Umgang mit entsprechenden Begriffen zu fördern, um Diskriminierung zu vermeiden. Konkret empfehlen Triulzi et al. die Behandlung anschaulicher Fallbeispiele in der Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen, die Analyse der in den Lehrplänen verwendeten Begriffe zur Beschreibung des Sprachenrepertoires, sowie Diskussionsrunden mit Schüler:innen, Lehramtsstudierenden und Hochschuldozent:innen. In jedem Fall scheint ein wichtiger Schlüssel darin zu liegen, problematische Denkmuster aufzubrechen, die Erstsprachen von vornherein mit einem einheitlich hohen Kompetenzniveau und später erlernte Sprachen von vornherein mit einem niedrigeren Kompetenzniveau in Verbindung bringen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Inwiefern bzw. in welchen Kontexten empfinden Sie die Verwendung der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache als problematisch? Wie können Missverständnisse Ihrer Meinung nach vermieden werden? Oder müssen eventuell ganz neue Bezeichnungen her? Haben Sie dazu Vorschläge?
Und an alle Mehrsprachigen: Welche Bezeichnungen verwenden Sie, wenn Sie über Ihr eigenes Sprachenrepertoire sprechen?
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Zum Weiterlesen:
[Beiträge zum Themenkomplex „Sprachsensibilität, Mehrsprachigkeit und Unterricht“, auf die Triulzi et al. (2023) Bezug nehmen]
Dirim, İ. & Pokitsch, D. (2017). Migrationspädagogische Zugänge zu „Deutsch als Zweitsprache“. In M. Becker-Mrotzek & H.-J. Roth (Eds.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (pp. 95–108). Münster: Waxmann.
Frank, M. (2018). „Sprachsensibilität“ – Ent- und Verdeckungslogiken einer Lösung für den Unterricht in der Migrationsgesellschaft. In İ. Dirim & A. Wegner (Eds.), Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF und DaZ (pp. 126–140). Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.
Mecheril, P. (2016). Migrationspädagogik – ein Projekt. In Mecheril, Paul (Ed.), Handbuch Migrationspädagogik (pp. 8–30). Weinheim, Basel: Beltz.
Winter, C., Maahs, I.-M. & Goltsev, E. (2021). Dinge beim Namen nennen? – Herausforderungen und Möglichkeiten der Sprachsensibilität in der sprachlichen Bildung. k:ON – Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung 3(1), 213–234. https://doi.org/10.18716/ojs/kON/2021.1.10.